Vor Jahr und Tag

Vor Jahr und Tag

Vor Jahr und Tag, so sagten unsere Vorfahren, wenn sie vor langer langer Zeit meinten.
Warum haben sie vor Jahr und Tag gesagt?
Gab es da einen Tag außerhalb des Jahresablaufs, einen, der nicht in das Kalenderjahr gehörte?
Den gab es wirklich.

Als die Menschen noch nicht alle lesen konnten und auch noch keinen bebilderten Kalender hatten, da war der Mond am Himmelszelt ihr Kalender.
28 Tage braucht der Mond von einem Vollmond bis zum Nächsten.
Das wusste jedes Kind.
Hatte sich der Mond 13 Mal gerundet, so war ein Jahr vergangen und ein Neues konnte beginnen.

Moment mal eben.
Das Jahr hat doch 365 Tage und 13 x 28 ergibt 364.

Da fehlt ja einer
oder
es bleibt einer übrig:

Der 365. Tag ist der Tag zwischen den Jahren, so sagten die Alten.

Er gehört nicht mehr in das alte Jahr, aber auch noch nicht in das Neue.
In den alten Geschichten war außerdem jedem Monat ein Baum zugeordnet – und auch ein edler Stein.
Die Monatsbäume wie auch die Monatssteine verfügten über magische Kräfte.

Der Tag zwischen den Jahren wurde dabei keineswegs übergangen.

Diesem Tag, der ein Monat war und doch kein Monat,
der nicht mehr in das alte Jahr gehörte und noch nicht in das Neue,
ihm wurde ein Baum zugeordnet, der eigentlich kein Baum war,
der weder in den Himmel wuchs, noch in der Erde wurzelte, der weder unten noch oben war,
sondern dazwischen, wie der 365. Tag.

Dieser „Baum“ ist die Mistel.

Wegen ihrer Heilkräfte galt die Mistel als heilig.
Sie durfte nur von Priestern mit einer goldenen Sichel geschnitten werden.

Am Tag zwischen den Jahren befestigten die Menschen einen Mistelzweig am oberen Balken ihrer Haustüre.
Dort hing er über des Hauses Schwelle, der magischen Grenze zwischen drinnen und draußen, zwischen hier und dort, zwischen Diesseits und Jenseits.
Dort hing der heilende Zweig auch zwischen oben und unten, zwischen Himmel und Erde.
Die heilende Kraft der Mistel war so wirksam, dass Feinde, die sich am Tag zwischen den Jahren dort begegneten auch den allerschlimmsten Streit beenden mussten..

Die Magie des Zweiges war stärker als Wut und Ärger.

Welche Kraft mag wohl stärker sein als Hass….

Wenn du einen Mistelzweig siehst, dann denk an diese Geschichte –
und an die alte Hanne, die sie mir geschenkt hat.

Mirjam